Wenn Volksschulkinder in schulischen Workshops mit diversen Sexualpraktiken konfrontiert werden, was passiert da in der Psyche von Neun- oder Zehnjährigen? Es kann von Interesse bis Verstörung alles passieren. Das methodische Problem, das ich damit habe, dass Kinder im Volksschulalter mit Sexualität konfrontiert werden, ist, dass alle über einen Kamm geschoren werden. Dadurch werden einige Kinder massiv traumatisiert. Ich arbeite als Psychiater viel mit Opfern von sexuellem Missbrauch: Da ist die Sexualisierung des kindlichen Opfers Teil des Missbrauchsgeschehens. Das Kind wird altersinadäquat mit Sexualität konfrontiert, reagiert verstört und wird so mehr und mehr dem zugeführt, was der Täter später mit dem Kind vorhat. Gruppendynamisch betrachtet reagieren missbrauchsgeschädigte Acht- oder Neunjährige besonders „interessiert“. Das auffällige, ungesunde Interesse ist aber ein Symptom ihrer Traumatisierung. Und diese Pathologie wird in den Klassen dann über die gesunden Kinder drübergestülpt. Langfristige psychische Störungen bis ins Erwachsenenalter können die Folgen sein.
Das diözesane „Ehe- und Familienzentrum“ in Vorarlberg argumentiert, dass viele Volksschulkinder über das Smartphone bereits mit pornografischen Bildern in Berührung gekommen seien. Diese Kinder dürfe man nicht alleine lassen. Der richtige Ort, um personenadäquat über Sexualität zu sprechen, ist das Elternhaus. Nur dort nimmt man wahr, was das individuelle Kind benötigt. Hier kann man Informationen anbieten und auf Nachfragen des Kindes warten. In einer Gruppe von Kindern wird aber immer einer nachfragen, möglicherweise schon im Rahmen seiner Missbrauchspathologie – und alle anderen Kinder müssen das miterleben. Die Berichte aus Vorarlberg zeigen erschütternd, dass diese Pädagogik voll danebengeht. Besonders die gesunden Kinder gehen häufig traumatisiert aus solchen Erfahrungen hervor. Rein psychologisch gesehen ist das ein Muster der Pädophilen: Kinder zu verstören durch Konfrontation mit zu viel Sexualität. Gerade die Kirche wäre gut beraten, hier zurückhaltender zu agieren.
Es gibt offenbar Kinder, die in den sexualpädagogischen Workshops Ekel und Abscheu empfanden. Manche sagten aber, es sei „langweilig“ gewesen. Schottet sich da kindliches Bewusstsein gegen etwas ab, was einfach nicht altersgemäß ist? Es kann eine Abwehrreaktion sein, dass das Kind Desinteresse vorschiebt, weil es das Erlebte gar nicht einordnen kann. Kindliche Missbrauchsopfer haben oft lange Jahre keine Erinnerung an den Übergriff, weil sie das Unfassbare verdrängen. Viele Neunjährige sind noch fern ihrer biologischen Pubertät und gehen deshalb auch bei solchen schulischen Übergriffen in die Bagatellisierung. Für ein normales Kind ist eine zu deutliche Darstellung von Sexualität eine Traumatisierung.
Warum setzt Sexualpädagogik so früh an: in den Volksschulen? Wem nützt das? Wenn sogenannte „Aufklärung“ inadäquat früh beginnt, steckt meistens eine verquere Philosophie dahinter. Ich habe immer wieder Patienten, die in den 1980er Jahren in Kommunen mit „freier“ und intensiver Sexualität wohnen mussten, oftmals als Kinder. Wir wissen von einigen Kommunenführern wie Otto Mühl, die später wegen Pädophilie verurteilt wurden. Die irrige Idee dahinter war, dass man die Kinder von ihrer natürlichen Scheu und Scham „befreien“ müsse, weil sie sonst neurotisch würden. Sex wurde verordnet, um innere Spannungen abzubauen. Für die Kinder war das oft ein Martyrium. Das klingt heute abenteuerlich, war damals aber ganz ernst gemeint. So kam es damals zu den links-alternativen Forderungen nach Legalisierung der Pädophilie. Helmut Kentler war Teil dieser Bewegung: Er übergab schutzbedürftige Knaben wissentlich an verurteilte Pädophile. In Kentlers Tradition steht das umstrittene Dortmunder ISP heute noch – auch wenn sie sich jetzt ein wissenschaftliches Käppchen aufzusetzen versuchen.
Auch Sexualpädagogen, die für die Kirche arbeiten, orientieren sich an der „Sexualpädagogik der Vielfalt“. Warum? Hat die Kirche nichts Eigenes zu bieten oder herrscht da Angst, als rückständig zu gelten?
Ich orte in der Kirche, vor allem bei mittelmäßigen Mitarbeitern, eine Sehnsucht, in der Welt wahrgenommen und anerkannt zu werden. Manche können dabei nicht zwischen ideologischen Behauptungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen unterscheiden. Das passiert besonders im Bereich der Psychologie. Hier wird in kirchlichen Kreisen mit 15 Jahren Verspätung nachgebetet, was einmal en vogue war. Das ist auch in der Sexualwissenschaft passiert. Aus meiner Sicht ist die „Theologie des Leibes“ eine gute Möglichkeit, Kindern Sexualität respektvoll näherzubringen. Wenn kirchliche Dienstleister den Wertekatalog der Kirche nicht mittragen, dann kommt es oft zu komischen Entwicklungen.
Wie kann man Kinder in dieser übersexualisierten Gesellschaft behüten und zugleich für die Außenwelt wappnen? Das ist ein Spagat, weil es einerseits das natürliche Interesse des Kindes gibt, das bei gesunden Kindern altersentsprechend erst mit der Vorpubertät einsetzt. Andererseits grassieren in den Klassen hochproblematische Bilder und Filme, die sich die Kinder gegenseitig zuspielen. Da müssen Eltern sehr sensibel sein, denn vieles aus dem Internet tut dem Kind einfach nicht gut.